zu Dominik Steigers Arbeit der Aufhebung

ODER Das Gesamtkunstwerk kann nicht nur eines sein und niemals ganz

Ferdinand Schmatz

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DER TEIL, DIE TEILE, DAS GANZE

Wo Literatur, Malerei und Musik zusammenfließen – droht dort das Gesamtkunstwerk als jedes Detail aufsaugende Vereinheitlichung? Gilt dies auch für Dominik Steigers Arbeiten, die nicht nur ich als „offene Einheit“ von Sprache, Bild und Ton erfahre? Nein. Sie sind „offen“, weil sie den Anspruch auf das Gesamtkunstwerk ignorieren. Sie waren, sind und werden nie auf ein Ende hin gearbeitet, sie bleiben stets Fragmente. Obwohl die Teile, durch die sie bestimmt werden, aus einem Ganzen zu kommen scheinen, sind diese nie bereit, in dieses Ganze zurückzumünden oder auf ein Neues zuzustreben. Sie haben, und das ist unter dem Aspekt einer „gewonnenen Zeit“ zu sehen, bereits „alles“ hinter sich, und ich, der Leser oder Betrachter, fragt sich, was dieses „alles hinter sich haben“ denn ist, wenn ich die Zeit nütze, die mir Steigers Arbeiten aufbereiten und abverlangen, um zu einem Erkenntnisgenuss vorzustoßen. Welche Verwirbelungen von Poesie, Wissenschaft, Alltag und elitärer Ästhetik, die Steigers Arbeiten kennzeichnen, rufen diesen denkerischen Schwindel im Betrachter hervor? Welches Wissen wird da angeführt, welche Prozesse in Gang gesetzt, lesen und betrachten wir Steigers Werk und ihn selbst – denn das Werk ist von der Person des Künstlers nicht zu trennen. Steigers persönlicher Umgang mit Personen und Dingen ist der Ausstrahlung der Arbeiten ähnlich: Konform einer Konvention, die aus der Bildung zu kommen scheint, aber alle darin niedergelegten Regeln in Form eines entäußerten Denkens umzuarbeiten versucht, und, mit Eleganz und Charme, aus den Angeln zu heben weiß. Die Konformität mit der überlieferten Konvention erweist sich als liberale Strategie einer anarchistischen Versetzung, die gleichzeitig den Aufbau einer neuen, künstlerischen Konvention im Werk selbst ermöglicht. Darin tritt Steiger aus der privaten Zone in jene des Sozialen und Ökonomischen, auch in jene des Marktes (den er, süffisant beobachtend, auszunützen versteht), um dort zu erbauen und im Maß der Erbauung – zu irritieren. Diese Irritation bewirkt das Kennzeichen seines Werkes: das Nicht-Zuordbare. Das aber lässt das Auge (des Gehirns) nicht zu – „Was ist zu sehen, wo gehören die Schriften, die Zeichen, die Bilder hin?“, fragt es mich? Und sucht nach: Sinn, Bedeutung, Ein- und Zuordnung dessen, was sich da so bekannt unbekannt vor dem Betrachterauge auftut. 

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DIE SCHRIFT Dominik Steiger verwendet Schrift nicht nur als Befehlsmittel für den Transport von Inhalten. Er zeigt die Schrift als Kette von sich stets entwickelnden Signifikanten, die sie in Verbindung mit den anderen konstitutiven Elementen des jeweiligen Werkes, zu ihrer „eigentlichen“, das heißt sich stets verwandelnden Bedeutung führen. Natürlich, also künstlerisch- künstlich, verändert er dadurch auch den lexikalischsemantischen Sinn der Schrift-Wörter oder Schrift-Sätze, den diese automatisch mittragen, sowie auch den grammatikalischen und syntaktischen Sinn, der gleichsam den Grenzen der Bedeutungen ihren linearen Schliff ihrer Verwendung gibt.

Die Schrift wird demnach Träger eines künstlerisch verdoppelten Sinns – im Bild als optisches Zeichen, als „Gestalt“, und als Abstraktum im Sprachbuch des Gedächtnisses, das sie in Form vager Erinnerungen und konkreter Anspielungen aufzuschlagen weiß. Auch mit diesem „Sinn“ dringt die Schrift in die Arbeit ein und begrenzt diese, wie er sie begrenzt hält. Aber Steiger macht diese Grenze einsehbar, hält sie visuell rezipierbar. Paradoxerweise leistet er dies durch deren Verwischung, die er der geordneten Rezeption und dem kontrollierenden Auge entgegen-schreibt, -zeichnet, -malt oder -baut. Die Ränder dieser Schrift konturieren nicht nur die Ränder des Bildes oder Dings, in oder auf dem sie laufen, sondern auch der Bedeutungen, die sie mittragen und gleichzeitig auflösen. Diese Gleichzeitigkeit ist aber ein Effekt eines Nach-, Neben- und Ineinander künstlerischer Setzungen. Zu Dominik Steigers Arbeit der Aufhebung ODER Das Gesamtkunstwerk kann nicht nur eines sein und niemals ganz Ferdinand Schmatz 13 Die Schrift ist also als Material des Zeigens zu verstehen. Als Bild-Macher eines neuen, sprachlich-gebrochenen Sinns weiß sie auf die menschlichen Sinne – das Auge, den Statthalter des Verstands – (ein) zu wirken und von dort aus den alten, sprachlichlinearen Sinn mitzuverändern. 

Wie diese Veränderung durch die Schrift als selbständiges und anderes tragendes Mittel zu erzeugen und weiterzulenken ist, das zeigt sich im künstlerischen Forschen von Dominik Steiger, das ich als Arbeit der Aufhebung bezeichnen möchte: Eine Aufhebung, die jedes, auch dieses mein Bezeichnen, mehr als in Frage stellt. Die In-Frage-Stellungen bei Steiger bewirken jedoch nicht ein Stadium der Verflüchtigung, oder der Zerstörung jener Mittel, die sie verwenden. Sie sind vielmehr Fußnoten einer neuen, künstlerisch nie ausformulierten Ordnung, die jene, aus der sie kommt, auf höchst eigenwillige Weise bereits hinter sich gelassen zu haben scheint. Die Ordnung der Zeichen erweist sich als eine private. Diese versteht die alte Ordnung der Dinge aufzulösen, ist aber nicht bereit, in das Schlagwort von der allgemeinen Auflösung (der Geschichte, der Gesellschaft, der Kunst, der Avantgarde) mit einzustimmen. 

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DAS ZEICHEN

Unter Zeichen verstehe ich in Dominik Steigers Arbeiten jene Gebilde, die in ihrer Bedeutung wechseln, das heißt: die vom Betrachter eine Praxis abverlangen, die Bedeutungen – die von Namen bis zur Halluzination oder tatsächlichen Verwendung der Dinge reichen können – erzeugt. Das geschriebene, gezeichnete, gemalte oder komponierte Zeichen ist bei Steiger ein im ganzen Umfang des Wortes semiotisches – reicht also von der sprachlichen bis zur dinghaften, von der abstrakten bis zur sinnlichen Ausrichtung. Diese ist trotz der Konvention der verwendeten Elemente nicht abgemacht oder ausgehandelt, das heißt, es gibt bei Steiger tatsächlich keinen Vertrag mit dem Leser oder Betrachter. Es darf ihn nicht geben, da es über sich stets verändernde Inhalte keine Abmachung geben kann. Festgelegt war es vielleicht einmal, aber festgemacht und festgedeutet wird nichts – die neuen Gestalten kommen durchgebeutelt daher, ohne allerdings „wild“, expressiv-gestisch zu wirken. Durch die stete Um- Verwendung der vorgegebenen Zeichen zu künstlich geschaffenen (Privat-)Zeichen erfindet sie Steiger gleichsam, und erreicht jene Charakteristik seiner Arbeiten, die sich auch im festgelegten Wort durchzusetzen vermag: das Changieren des Inhaltlichen, das keine starren Einordnungen zulässt, aber bewegliche Zuordnungen möglich macht. 

Denn Leerstellen weist das Gehirn zurück, und befiehlt dem Auge: „Finde!“ – Also muss Bedeutung, Inhalt, Sinn gesucht und, wenn nicht offensichtlich greifbar, selbst erzeugt und erfunden und zugewiesen werden. Das ist Arbeit am Werk, die vom Künstler gefordert wird, ohne den Zuschauer konzeptuell unmittelbar in seine Betrachtungen miteinzubeziehen. Dieser ist aber „unbewusstes“ Kalkül der Arbeit, weil Steiger auch immer sein eigener Zuschauer, sein eigener „innerer“ Beobachter ist (ein „Idioeidetischer“). Er erringt also den Status des Fremdbeobachters, der zwar nicht außerhalb seines Systems agieren kann, aber zumindest die Position oder die Perspektiven der Innenschau ständig zu verändern sucht. Durch diesen Perspektiven- und Beobachterwechsel, den der Leser und Rezipient anhand der Zeichen und der zu Zeichen werdenden Bilder und Schriften, und umgekehrt, mitzuleisten hat, wird der private Rahmen gesprengt. Das Eigen-Willige, Steiger’sche Charmante, Verstiegene etc. erfährt multipersonale Mimikry, die der Betrachter zurückweisen oder aufnehmen und sogar mitbestimmen kann. Dadurch hebt sich das leere oder nicht festgelegte Zeichen einerseits in den Rang eines intersubjektiven Bildes oder Begriffs, andererseits findet das festgelegte in neue, offene Zuordnungsfelder hinein. Nicht mehr und nicht weniger.

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DAS BILD

Das Bild wächst aus der Zusammenführung der Zeichen heraus oder formiert sich innerhalb des Zeichenverbandes durch die Begrenzungen, die von den einzelnen Zeichen gesetzt werden. Es tritt als Mischform aus Schrift – also als Wort oder als Wortrest – und aus Ding – also als Fundgegenstand oder als neu gebasteltes Zeug – auf. Die Motorik der Striche hält inne, die zunächst bedeutungslosen Linien, Pünktchen, Flecken, Figuren fließen zu benennbaren Gestalten zusammen, die in ihrer Stimmigkeit – von Farbe, Form, Versprengung am Blatt – „klassische“ Auf- und Verteilungsverhältnisse aufweisen und nicht selten in Ergänzung oder Widerspruch zu der sich mit ihnen konturierenden Schrift stehen. Die Verbindung von Schrift und Gestalt ist manchmal nur angedeutet, kann aber im Betrachter vollzogen werden. Denn in diesem arbeitet etwas von dem Angebot, das ihm der Künstler bietet, und diese Arbeit heißt: Zeitgewinn – Stille, die dem „interessenlosen Wohlgefallen“ Kants näher kommt als östliche Meditation. 

Denn Steigers Arbeiten fordern kein meditatives Versenken ein, sondern wirken trotz der Sinnlichkeit ihrer handwerklichen Umsetzung höchst abstrakt. Sie arbeiten in einer eigenwillig privatlogischen und antiprofessionell anmutenden Weise reflexiv, quasi analytisch, und geben damit Anreiz zur Bildung von Theorien oder Modellen über die Wahrnehmung genauso wie das Wahrgenommene. Dennoch legen sie sich jeder drohenden Festnagelung quer. Es gelingt nicht, den Dingen, Schriften und Bildern jenen eindeutigen Sinn zuzuordnen, der in ihnen stets aufzublitzen scheint. Dieser besteht deshalb nicht über einen größeren Zeitraum hinaus, weil er Bestandteil der Zeit ist, die der Betrachter aufbringen, einsetzen und investieren muss, um zu einer Deutung, zu „seinem“ Sinn der Arbeiten vorzustoßen. Dazu ist es erforderlich, die Arbeiten stets vor das innere oder äußere Auge zu hieven, um sich mit ihnen virtuell in den unfolgerichtigen Aufbau einer „logischen Um-Welt“ einzuschleusen. Dort stellen sich die Fragen nach der alten Sinnteilung von Inhalt und Ausdruck nicht mehr. 

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DER SINN

Der sich einstellende Sinn ist nie endgültiges, sondern offenes Resultat der Synthese von Schrift, Zeichen und Bild. Von innen her stimmig komponiert, wirkt er aber nach außen hin, durch die detransformierte Ausrichtung seiner Bestandteile, verfremdet, verrückt. Eine Melancholie des Objekts stellt sich ein. Wenn Freud die Melancholie als jenen Zustand bezeichnete, „wo der Schatten des Objekts auf das Ich fällt“, so paraphrasiere ich für Dominik Steigers Arbeiten eine Art Umkehrung dieses Satzes: Steiger ermöglicht dem Betrachter, sein Ich in die Schatten der Objekte fallen zu lassen, um dort jenen Sinn zu stiften, der sich der einhelligen Weltdeutung eines festgeschraubten Ichs zu entziehen vermag. Der Betrachter und Leser erspart sich die Melancholie und parasitiert trotzdem am (psychophysischen) Genuss ihrer Wirkung – Kampf mit der Unüberwindbarkeit des Objekts hat für ihn der Künstler, Steiger, der „Letterspeck“, geleistet. 

Mit dieser Leistung, erstellt im System der Kunst, das haarscharf am alltäglichen Leben vorbeistreift, erobert sich Dominik Steigers Arbeit jene Kennzeichen des Deterritorialisierten, die Deleuze für jede „kleine Literatur“ (im Sinn von Widerstand gegen die offizielle Mainstream-Literatur) geortet hat: den aus der Außenseiterposition herrührenden Verfremdungs- und Entäußerungs-Koeffizienten, der ihre Sprache erfasst; die Verknüpfung von individueller mit politischer Erfahrung; und den kollektiven Wert der „kleinen Literatur“, der sich aus den beiden erstgenannten Punkten ergibt. Das verlangt nach Begründung, Steigers Werk politisch, mit kollektivem Aussagewert – Steiger, der Individualist schlechthin? Ich sehe das so: Wenn Kafka als politischer Autor gilt, dann ist es auch Dominik Steiger. Auch er scheint seine „Muttersprache“ verloren zu haben, wir wissen, ich meine, er hat sie hinter sich. Auch Steiger findet, schafft sich eine neue – wie Kafka, der im Jüdischen nie zu Hause war, im Deutschen nie heimlich wurde und deshalb zu einer persönlichen, „fehlerhaften“ Grammatik und Syntax fand – in der Literatur, und in der Kunst (den Objekten, Bildern und Zeichnungen). Dort pflegt er das Antiprofessionelle (Dieter Schwarz), und diese Pflege ist die fehlerhafte gekonnte Antwort auf alles Bodenständige, sprich: Repräsentierende, Mittelbetreibende, Herrschende – eine Art Trotzreaktion auf die wie auch immer erlittene Deterritorialisierung. Aber diese ist ästhetisiert, jedes Unfigürchen, das da so galant daherschwebt, jeder Seufzer, der so klingend dahertönt, jeder Buchstabe, der sich so als Wort, jedes Schnipsel, das sich so als Bild gibt – sie werden zusammengehalten durch die locker, nie vollständig formalisierte Serienbildung (wie sie schon früh in den „biometrischen texten“ einsetzte). Die Serien, deren Ränder stets angeknappert, sanft angeritzt werden, verweisen als Aussagenverkettungen auf jene Blöcke, die Deleuze als Kennzeichen des Politischen erkennt. Damit ist nicht die politische Botschaft in Form einer Ideologie gemeint, sondern die vom Künstler geleistete Arbeit als eine, die vom Rand der „großen“ (verwerflich herrschenden) Literatur und Kunst kommt, die dieses Draußen-Sein erforscht und aufzeigt, ohne in ideologische Definition zu verfallen. Eine Arbeit, die von den Rändern der sozialen und ästhetischen Felder der Kunst hereintaumelt, oder besser zu Steiger passend: hereinspaziert, und von diesen Rändern die Zeichen der Bilder, die Buchstaben der Schrift fallen lässt: als „Letterfälle“ purzeln sie aus dem „Letterfrack“, den der Nichtdazugehörende zu tragen verstand. Diese Mönchskutte der Kunst zeigt er, nachdem er sie überwerfen musste und, dandyhaft, überstreifen wollte – auch in den musikalischen und skulpturalen Werken. Wenn „Musik den Vorschein von Mündung“ gibt (Ernst Bloch), so kommt es bei Steiger zum „Nachschein“ von Mündung. Diese Mündung liegt im natürlichen Mund, in dem Laute, Wörter, Halbwörter, Halbsätze und Sätze produziert werden, die von künstlich verlängerten Körperteilen, von technischen Geräten (Tonband, Schallplatte, Video) unterstützt werden, um diese Unterstützung als mangelhaft zu desavouieren. 

Der Freud’sche „Prothesengott“ bleibt ein Mangelwesen. Dieser Mangel wirkt bei Steiger nie überwunden, er ist vorhanden wie das Verlangen, das er schafft. Dieses Verlangen geht aber bei ihm in den Wunsch über, obwohl jede Schrift, jedes Zeichen, jedes Bild so erfüllt daherkommt. Aber nichts ist fertig, es gibt das Gesamtkunstwerk bei Dominik Steiger nicht. Das zum Wunsch mutierte Verlangen bewirkt, dass Veränderung passiert, Bewegung, dass die Arbeit am Detail fragmentarisch bleibt und nicht zum Stillstand kommt. Dabei gibt sie sich trotz ornamentaler Ausschweifungen schlicht. Aber das Schlichte ist nicht einfach und gibt Rätsel auf. In Dominik Steigers Arbeiten ist das Rätsel vorbei, die Lösung liegt da, aber genau sie ist am schwierigsten zu verstehen. Das ist Kunst: 

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DIE SCHRIFT UND DAS ZEICHEN UND DAS BILD UND DER SINN UND 

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Erstveröffentlicht in: Dominik Steiger, Aufhebung der Arbeit, Buchdienst Fesch – Tagtraumarbeiterpartei, Wien 1993, Faltblatt. 

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