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Eine Auswahl aus dem literarischen Werk von Dominik Steiger

Thomas Eder

(die) Kunst (Der) Literatur, 1976. Aquarell, Tusche, Deckweiß, Bleistift auf Papier, 30 x 20 cm

Dominik Steigers literarisches Werk ist ein Gemenge aus unterschiedlichen Traditionen und Stilen, er greift das Herausragende dieser Stile auf und wendet es ins Eigenständige. Seine Texte erhalten dadurch ihren unverwechselbaren, großartigen Ton und bekräftigen ihr Inkommensurables mit gleichzeitigen Anklängen und einer Anschlussfähigkeit an die Tradition der sprachexperimentellen Literatur der Avantgarde (vgl. z. B. Imitatio 1). 

Imitatio. Typoskript, Bleistift, Kugelschreiber, Tusche auf Papier, 29,7 x 21 cm. Faksimile erstveröffentlicht in: Dominik Steiger, Amateurprobleme der Lebensüberlegung (1980), S. 83

Die frühen Gedichte aus dem Band WENDE (1961) sind noch stark der surrealistischen Tradition verpflichtet, sinnlich Unmögliches und alle alltägliche Wahrnehmungsgewohnheit Sprengendes werden in ihnen als das Besondere der poetischen Welterfahrung ausgestellt.

ich aber … Wiedergabe als Faksimile der Erstveröffentlichung aus: Dominik Steiger, WENDE, Selbstverlag, Wien 1961, o. S., 20,5 x 14,5 x 0,3 cm

Die Begegnung mit der Wiener Avantgarde (mit den Autoren der Wiener Gruppe, aber auch den Künstlern des Wiener Aktionismus und vor allem mit Dieter Roth) führt dazu, dass Steiger die beiden Pole ihres künstlerischen Anspruchs aufgreift. Die Steigerung des poetischen Erlebens durch das (sprachliche) Kunstwerk paart er mit der Frage danach, wie durch Manipulation von sprachlichen Mustern zu Einsichten über das Funktionieren von Sprache und Denken zu gelangen sei. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist – neben dem Band im atemholen sind zweierlei gnaden (1965), der ein Gedicht von Goethe als stimmlich zu reproduzierenden Merksatz variiert – die 1967, zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, im Rainer Verlag publizierte Die verbesserte Große Sozialistische Oktoberrevolution (1967). Dinge, atmosphärische Phänomene (Wolken), Tiere und Körperteile bekommen in ihnen eine Stimme und stehen, als realpolitische Realisation des üblicherweise nur im Märchen Möglichen, gegen die sie Beherrschenden auf. Die realen Figuren der Zeit (z. B. Majakowski in Bagdadi 2, werden mit Grundzügen ihrer Biografen in diese Märchenstimmung integriert und damit in einen anderen fiktionalen Status erhoben. Aber auch die frühen Prosatexte (Wunderpost für Copiloten Erzählungen,1968; Hupen Jolly fahrt Elektroauto. Neue Wunderpost mit 15 Schnappschüssen, 1969) mischen Traumhaftes, Träumerisches mit Poetischem, sie übersteigen die Grenze von poetischer Illusion und nur Geträumtem wie selbstverständlich, etwa wenn der Erzähler einer dieser Prosaminiaturen sich in Prag wähnt und als staubiger Foliant auf den Regalen der Universitätsbibliothek Kafka, Blei, Brod und Grillparzer begegnet. Der zweite Teil des Titels der Erzählung Von Prag nach Heyerdahl 3 liest sich wie das Programm für eine bedeutsame Linie durch Steigers weiteres Werk. Thor Heyerdahl, auf den hier angespielt wird, war ein norwegischer Anthropologe, Zoologe, Ethnologe, Botaniker, Abenteurer und ein bedeutsamer Vertreter des Diffusionismus, einer Theorie zur Erklärung kultureller Entwicklung und der Ähnlichkeit weit voneinander entfernter Kulturen. Dominik Steiger hat diese Form des Diffusionismus in die Literatur gebracht. Er hat unterirdische Verbindungen verschiedener Schriftsteller verschiedener Zeitalter und Herkünfte unter dem Maßstab, besser: dem sensiblen Passhölzchen des Poetischen, Wunderbaren miteinander gefügt und in seinem Werk ganz eigenständig an die Oberfläche des Lesbaren gebracht.  Die Verbindung von Text und Körper wird in den von Steiger ab 1972/73 verfertigten Zeichnungen vom Knöchelchen-Typ und in seinen „biometrischen Texten“ 4  besonders deutlich.

Ohne Titel (Nr. 20), 17. 4. 1972 (Detail). Typoskript, Korrekturweiß, Tusche, Bleistift auf Papier, 29,7 x 21 cm

Biometrisch, also das Maß ans Leben legend, loten seine Zeichnungen und Texte dieser Zeit die Relation Urheber/Werk im Wort- und Bild-Körper selbst aus: skelettierte Zeichnungen auf der Ebene der Federzeichnung, auf der Ebene der Sprache skelettierte Wortkörper, silbische Zusammenfügungen. Die Texte in imitierter phonetischer Schreibweise präsentieren onomatopoetische Grundlagenforschung, die manchmal an eine – freilich nur simulierte – Suche nach einer früheren Sprachstufe des Deutschen (oder der Sprache insgesamt) erinnert. Damit bewegt sich Steiger in den Bereich der autonomen, nahezu autistischen Textproduktion, innerhalb dessen er – wiederum in enger Beziehung zu den Arbeiten der literarischen Freunde wie Gerhard Rühm, Oswald Wiener und Dieter Roth – poetisch die Fragen nach dem Zusammenhang von Zeichen, Poesie und Denken (als dichterische Aushebelung der Semiotik) erkundet. Keinesfalls szientistisch setzt Steiger, wie vor allem auch wieder Roth, auf die poetische Überzeugungskraft des Fehlers, des Verschreibers, des Inkorrekten, des Abgebrochenen; dieser Zug wird in seinem späteren Werk noch verstärkt.  Der Band Mein fortdeutsch-heimdeutscher Radau (1978) hat u. a. Steigers Zeit in der Fremdenlegion zu seinem Gegenstand, der ins Poetische gewendet wird.

RÜCKWÄRTS ZUM LEBEN ANFANG, Textauszug aus der Erzählung Flucht in die Legion. Dreiseitiges Typoskript, Bleistift, Kugelschreiber, Tusche auf Papier, 29,7 x 21 cm. Faksimile erstveröffentlicht in: Dominik Steiger, Mein fortdeutsch-heimdeutscher Radau (Tragelaph’s I. Part). 54. Karton, 5. Buch, Edition Hundertmark, Berlin 1978, S. 16–18, 21 x 15 x 0,7 cm

Es sind, wie Steiger im Nachwort schreibt, diese „Verse des Dilettanten Dominik Steiger geb. 1940 in Wien […] zur Aufbewahrung in sein Gedächtnis, vorangemeldet, daß dahier nicht erst nachentsteht, sondern bloß der Eindruck, 1958 die Legion eingegangen“. 5 Wiederum ist die syntaktische Abweichung beabsichtigt, als ein Exempel des „Polia 6-Moment[s] des jungen Autisten, dem zu folgen seine Leistung ab 1964“ geworden sei. 7  

Ohne Titel, Incipit: „Weichem Fuß“. Unpublizierte Vorstufe. Typoskript, Tusche auf Papier, 21 x 14,8 cm

Mit den Texten aus der 1982 entstandenen Serie WAS-IST-WAS-GEDICHTE wendet sich Steiger dem Kreatürlichen erneut mit großer Zärtlichkeit zu. Bären, Mäuse, Hunde und andere Lebewesen (zu denen auch Pflanzen zählen) werden als die Bewohner von nahezu bukolischen Landschaften in kurzen Prosasplittern bedichtet. Manchmal ahnt man reale Begebenheiten (der gesehene Hund im Park, die nahezu verhungerte Maus in der Garage) aus des Autors Lebensumfeld als Anlass dieser Zuwendung, die lebensweltliche wie auch poetische Fürsorge vereint. Aber auch das Abstruse, Unwahrscheinliche (wie in Ein Schupo 8) nach Art des Herumstreifens der französischen Surrealisten (und später das „dérive“ der Situationisten) zieht Steigers poetische Aufmerksamkeit an.  Steigers Texte ab 1997 sind Prosaminiaturen (von meist nicht mehr als einer Buchseite Länge), die er zuerst „ Sinngummis“ (in verschiedenen Varianten der möglichen lautschriftlichen Umsetzungen) nennt und die zu Beginn unter Zeitdruck („à la minute“, z. B. während seiner wenige Minuten dauernden Hantelübungen) ausgedacht werden, als Anklang an die „contraintes“ der oulipotischen Textproduktion.

im Ofen brennt, 1993/95. Wiedergabe als Faksimile der Erstveröffentlichung aus: Dominik Steiger, SINNGUMMIS À LA MINUTE, Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 1997, S. 13

Später folgen Titel wie Abra Palavra (2004) und mon dieu es geistert (2007). Diese Prosaminiaturen durchzieht ein Hang zum Unwahrscheinlichen, Inkorrekten und Fantastischen; allerdings in einem kalkulierten Maß, das dem Leser erlaubt, Rückbindungen an die Welt seiner Erfahrungen zu knüpfen. Die Assoziationen flattern und die sprachlichen (Trieb-) Kräfte entfalten sich frei, immer trifft Steiger das richtige Maß und den richtigen Zeitpunkt, an der richtigen Stelle abund auszubrechen. Die einzelnen Erzählsplitter bieten ein Maß an Kohärenz, das gerade an der Grenze von Wohlgeordnetheit und Chaos, von Verstehen und Verstehensverweigerung, von Sinn und Nicht-Sinn tänzelt und die Grenzen durchlässig macht. Dominik Steiger ist in seinen Formulierungen (z. B. im pikanten Einsatz von mehrdeutigen Wörtern) immer wendig, die „Sinngummis“ leben von Verdichtungen, deren ästhetischer Reiz auch aus ihrem ökonomischen Vorteil herrührt. Mit ganz wenigen Lauten, Wörtern, kleinen Fehlern und Vertippern, die bewusst belassen werden, wird ein Kosmos von Bezügen ausgefaltet.  

In diesen Prosaminiaturen kann Dominik Steiger leichtfüssig auf den Schultern einer mächtigen Denk-Tradition agieren, die sich der Frage nach dem Zusammenhang von inneren, psychischen, vielleicht unbewussten Zuständen mit sprachlichen Formulierungen aussetzt. Diese Sprachstücke können dabei als Notate und Erzeugnisse innerer Dispositionen aufgefasst werden und zugleich als „eine Art Maschine, die mit Hilfe der Worte den dichterischen Zustand herbringen soll“. 9 Steigers kurze Prosastücke reagieren aber auch auf eine literarische Tradition, die sich der Erkundung von unbewussten Vorgängen und deren sprachlicher Äußerlichkeit verschrieben und daraus ein ästhetisches Programm gemacht hat: auf die „écriture automatique“ der Surrealisten. Die Beschreibung der Differenzen, die Steigers Prosa bei allen Gemeinsamkeiten von einem psychoanalytischen Konzept der Verdichtung und von einer (gescheiteren) surrealistischen Demonstration des Unbewussten in assoziativ-automatischem Schreiben trennen, kann das Eigene der kurzen Prosastücke erhellen. Die Steiger’schen Verdichtungen stehen immer schon in dem Licht, an das sie zu bringen sich die Psychoanalyse in anderen, nicht dichterischen Zusammenhängen durch Deutung bemüht. Im Gegensatz zu surrealistischer Textproduktion, der es um intendiert-unbewusste, automatisierte Verdichtungsarbeit ging, sind die „Sinngummis“ aus bewusst-bewussten, abkürzenden Verdichtungen gefertigt. Der daraus beziehbare Lustund Erkenntnisgewinn entzieht Steigers „Sinngummis“ dem Feld der Psychologie und rückt sie – nachdrücklich – in den Bereich zeitgenössisch und überzeitlich relevanter Literatur.  

Die letzte Volte führt diese Prosaminiaturen einer – wie man sie nennen könnte – fortschreitenden Universal- Empathie zu, die bereits seit dem Frühwerk angelegt erscheint. Nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere und Pflanzen und sogar in unbelebte Gegenstände versetzt sich das poetische Ich hinein. Darin klingt eine Nähe Dominik Steigers zu einem deutschen Physiker und Naturphilosophen an, den er sehr schätzte: eine Nähe zu Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der neben seinen Schriften, die die experimentelle Psychologie zu begründen halfen („Psychophysik“), auch eine andere, im besten Sinne diffusere Seite hatte: In seinem Zend-Avesta oder Über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkt der Naturbetrachtung (1851) rehabilitiert Fechner, wie schon zuvor in Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen (1848), die Auffassung, dass die ganze Natur lebendig und beseelt sei. Auch in Steigers letztem Band, in spuk & geflunker (2014), wird die herkömmliche Grenze zwischen Natürlichem und Künstlichem, Mensch, Tier und Pflanze, Weltall und Irdischem außer Kraft gesetzt, selbst die Barriere zwischen Leben und Tod erscheint durchlässig.  

Kapitelüberschrift zitiert aus: Ohne Titel, Incipit: „Ein gelber Bär“, aus dem Zyklus WAS-IST-WAS-GEDICHTE, in: Dominik Steiger, ÜBER MEINE KÖCHELCHEN-ZEICHNUNGEN, in: Otto Breicha (Hg.), Protokolle ’82/3. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Bd. 3, Jg. 1982, Jugend und Volk, Wien/München 1982, S. 246 

1 Imitatio, in: Dominik Steiger, Amateurprobleme der Lebensüberlegung (Tragelaph’s 2. Parater), Buchdienst Fesch, Wien / Seedorn, Zürich 1980, S. 83.  

2 Majakowski in Bagdadi, in: Dominik Steiger, Die verbesserte Große Sozialistische Oktoberrevolution. Eine Festschrift mit Bildern von Walter Zimbrich, Rainer, Berlin 1967, o. S.  

3 Von Prag nach Heyerdahl, in: Dominik Steiger, Wunderpost für Co-Piloten. Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1968, S. 16–19.  

4 Die ersten seiner „biometrischen Texte“, Nr. 3 bis Nr. 11, veröffentlichte Dominik Steiger unter dem Titel Biometrische Texte (71/72) in: Günter Brus (Hg.), Die Schastrommel. Organ der österreichischen Exilregierung, Nr. 7, Bolzano [d. i. Berlin], Mai 1972, o. S. Weitere biometrische Texte folgten in der Schastrommel, Nr. 12 (August 1974), unter dem Titel Biometrische Texte 1–147. 1972–1973.  

5 Dominik Steiger, Mein fortdeutsch-heimdeutscher Radau (Tragelaph’s I. Part), Edition Hundertmark, Berlin 1978, S. 110.  

6 „Polia“ ist wohl eine Anspielung auf Francesco Colonnas Renaissance-Roman Hypnerotomachia Poliphili (1467, gedruckt von Aldo Manuzio 1499), in dem u. a. der junge Poliphilo (= „der Polia Liebende“ oder aber „der viele/Vieles Liebende“), ein angehender Priester, im Traum den Weg zu seiner Geliebten, Polia, findet.  

7 Dominik Steiger, wie Anm. 5.  8 Gedicht [ohne Titel, Incipit: „Ein Schupo“] aus dem Zyklus WAS-IST-WAS-GEDICHTE von Dominik Steiger. Zitiert aus: ders., ÜBER MEINE KNÖCHELCHEN-ZEICHNUNGEN , in: Otto Breicha (Hg.), Protokolle ’82/3. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Bd. 3, Jugend und Volk, Wien/München 1982, S. 225 [auch als separater Fortdruck erschienen, anlässlich der Ausstellung im Kulturhaus der Stadt Graz, 1. 10.–30. 10. 1982].  

9 Paul Valéry, Dichtkunst und abstraktes Denken, in: ders., Zur Theorie der Dichtkunst und vermischte Gedanken, Insel, Frankfurt/M. 1991 (= ders., Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 5), S. 141–171, hier S. 169.  

Artikel erschienen in: Katalog zur Ausstellung DOMINIK STEIGER RETROSPEKTIVE, Kunsthalle Krems, 2014, Hrsg. Hans-Peter Wipplinger, Konzept Suse Längle und Hans-Peter Wipplinger, 2014, Verlag d. Buchhandlung Walter König, S. 16 - 19

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