(mühelos) STÜSSELCHENS

Ritter Literatur, 2020

Der vorliegende Band versammelt Prosaminiaturen aus Dominik Steigers Nachlass, Zeugnisse seines täglichen Schreibgeschäfts bis in die letzten Lebensmonate: Betrachtungen und Rückblicke, Wunschprojektionen, aber auch Schreckensvisionen eines „Tagtraumarbeiters“. Wunderhafte Erzählungen von einem holzlosen Eiland, einem Besuch in der Arktis oder von einem Indianer-Prozess halten den Irrläufen „fragmentierter Neuzeitler“ Vorstellungen von einer engen Verständigung zwischen Blumen, Himmelskörpern, Tier und Mensch entgegen. Gleichsam auf das leere Blatt gefallen, eignet diesen Arbeiten ein unverwechselbarer Gestus des Flüchtigen an, der Versprecher und Schreibfehler als Mitteilungen des Unbewussten gelten lässt. Steigers Sprachspiele eröffnen – jenseits der schalen Abstraktheit gängiger Idiomatik – einen unverstellten Zugang zu den Phänomenen, führen Geistiges und Somatisches in der sinnlich-konkreten Neuformulierung unserer Erfahrungen und Phantasiewelten zusammen. Solcher Art verheißt kreatives Schreiben Trost und Auswege aus Atmosphären der Verlorenheit und der Resignation über eine alles in Besitz nehmende, natur- und geistferne Nutzwelt. 
Wechselspielend mit Stimmungen einzelner Texte enthält „(mühelos) STÜSSELCHENS“ eine Auswahl an Faksimiles aus den „kulturcollagen“, einer der fundamentalen Werkgruppen des singulären bildnerischen OEuvres von Dominik Steiger.

98 Texte, 34 Bilder
Mit einem Beitrag von Franz Josef Czernin
Herausgegeben von Renate Ganser

www.ritterbooks.com

Aus der Serie Kulturcollagen. Bearbeitete Postkarte, Tixocollage

im wald war der wanderer verirrt. er suchte nach einem wegweiser, aber da war nichts als waldeinsamkeit unter immensen bäumen und anderen feinen pflanzen. keine blume reckte ihren leib über die erdkrüste, man musste schon graben, um ihren unterleib zu kriegen. doch wanderers ziel war das waldverlassen und eintreten ins feld, wo die schiere sonne ihr strahlenbündel vergeudet. einmal gefunden würde sich schon erweisen, was zu geschehen hätte. in den kulissen seines verstands klopft jemand an die rückwand. hier war nicht der platz sich vernehmlicher zu machen, es bräuchte ein großes licht, wie es der fixstern zu verschenken hat.
rasumövsky knabberte an seinem letzten keks. er beklopft seinen bauch, lauscht auf das herz und seine freundlichen organe, selbstredend immer auch die lunge. ist doch sie das einfallstor zu der lustigen seele. nun schreitet einer unsichtbar neben dem helden, nimmt ihn unspürbar an der hand und leitet ihn ins gewünschte freie land. ein tiefes aufatmen, der blick umfasst das lichte revier, als wärs ein wohlgeformtes heterogen. selbst von anständigen eltern zur welt gebracht, litt der einzige sohn an seiner singularität und schaffte sich eine gitarre. dazu nahm er ein kubistisch bild zur vorlage und bastelte das instrument. aber bald stellte sich lähmende müdigkeit ein, die gitarre wanderte auf den second–hand-markt von lustenau, und der musikschüler trat die reise an, um etwas lebendiges für sich zu finden; etwas warmblütiges wie es in büchern beschrieben.
in diesem vorhaben gaukelt eine zeitlang ein blonder pferdeschwanz weit voraus. reaumür rasumövsky eilte, so schnell ihn seine beine trugen, hinterher. bald trat ein abendregent ihm in den weg, und der abenteurer verlor das haarige blendlicht aus den augen. der abendregent tat ihm schön und führte ihn an den waldrand. dort befingert er den jungen schönling mit einer schwarzen gänsefeder, lässt wohl auch mehrere seufzer aus, sodass der jüngling sein heil im dunklen walde sucht; aber leider auch die tiefe verlorenheit der vorzeit.
das hatten wir schon. jetzt wird alles anders. ein geschöpf, wie es nur die kühne phantasie erschaffen kann, widmet sich dem einwegsamen, herzt ihn, küsst und lächelt dazu.

Aus der Serie Kulturcollagen. Bearbeitete Postkarte, Tixocollage

der magnet zieht die finger über den buchstabenweg der schreibenden maschine. schrei: schreibmaschine halt! und du wirst bemerken, dass sie ihren eigenen willen hat. immer hinterher laufen, das ist das goldene gesetz der natür. mach mal deine haustüre auf, guck links, rechts und beginne zu laufen. glaubst du vielleicht, dass du an die versprochenen dinge herankommst? nee, die giebts ja gar nicht. lauf du nur!
im innviertel steht ein großartiges haus, aus dem schauen vier artige künstlerinnen heraus. du siehst kein bein, nur die reinen antlitze, wie sie in der morgenfrüh zur sonne hin blitzen. und die sonne dankt mit wärmenden strahlen, die den vier mädchen durch die wuschelhaare fahren. dann, sobald sie den kaffee getrunken haben werden, werden sie im atelier vier neue kostbare stücke zu den alten hinzufügen. und die ältesten des fleckens werden kommen und sie loben.
neulich ging ich in paris an die kunstmeile. meine freunde lagen noch in ihren weichen betten, da pochte ich schon an die harten objekte, um zu verifizieren, ob sie auch echte harte galerie bewohner mit vier bedeutenden rückenwirbeln seien, wie es die mode vorschreibt. und sie bewegten sich, nickten mir zu, und erkannten mich, so wie auch ich sie erkannte als die wahren möchtegerne, die im spital der kunst ihre täglichen leiden zu kurieren angetreten sind. hinter ihnen im grauschimmer stehen zartgebaute artisten, die sich mit hilfe ihrer wunschobjekte einen platz im artenfaktenreich erobern wollen und hoffen, dass die große torkonfiguration dorten für sie geöffnet werde. aber ätsch! so geht das nicht.
wir löschen nun die lichter, nehmen ein gutes buch zur hand und studieren verschiedene wunschvorstellungen vom leben der warmblütler. die kaltsachen mal beiseite, in die augenwinkel wenn nötig. also sprach ein häuptling, der rotjacke heißt und sagte: jetzt bist du gefragt, den reigen zur seeligkeit anzuführen. denke daran, dass du in einer stafettenmannschaft stehst, die sich ein weites ziel im unendlichen gesteckt hat. nimm dich zusammen und schau auf den weg; so musst du's machen.

Textmappe (mühelos) STÜSSELCHENS

wenn die soldaten auf den friedhof gehn und die gräber ihrer kameraden sehn, schluchzen sie heftig. ihre dekorbrüste heben und senken sich im gleichen auf und ab der wolkentürme.
ein soldat allein kann eine ganze armee durch seine persönlichkeit in die schranken weisen. er muss nur in der grube seiner brust nach dem rechten organ spüren, das ihm die kraft und den glauben an seinen sieg verleiht. dieses organ wollen manche pastoren den heiligen geist nennen. der naturwissenschafter hingegen hat einen andren namen parat: herzenswitz.
auf dem schlachtfeld stehen zwei armeen gegenüber, die von duseligen kapos, seien es untergeordnete chargen, seien es selbsternannte obergefreite im höchsten amt, dahin befohlen waren. nun, in der betrachtungspause, die sich der schreiber herausnimmt, wird das ausmaß des irrwitzes sichtbar. nicht, dass ihm und seinesgleichen um die auf dem leopardentest stehenden leben zu tun wäre, sondern ihm steht vor augen das zweifelhafte unternehmen zur harmonisierung zweier eigentlich gleichgestellter individuen. der leopardentest, der in kürze losgetreten wird, soll die kontrahenten praktisch und auch ideell in ein geistig somatisches nullsummenspiel einbeziehen, das der beruhigung gespannter verhältnisse dienlich sei. 
irrtum, meine herren, aber bitte schlagen sie los, wenn sie meinen.
in solchen sachen ist man gut beraten, shakespeare heranzuziehen; selbstverständlich in der schlegelschen übersetzung. anhand dieses autors kann sich jeder feldherr, sei er noch so groß ausgeführt, einen begriff von wahrer feld- und stadtherrlichkeit machen. wenn er es ernst meint, das entstaubte buch ins regal zurückstellt, können viele wesen, seien es transporttiere, bewohner der erdunterbereiche, fliegendes personal – seien es brieftauben, sturzkampfbomberpiloten usf. – einem bitteren, übrigens sehr teuren, ausflug in die schwarzesten unternehmungen entzogen werden. mehr als der kriegsgedanke wäre und ist der agrikulturgedankenapparat, der in unserer zeit so schwere einbuße hin hat nehmen müssen. daher sei hier angemahnt: räumt die schlachtstellung, geht über land und seht, was ihr da schaffen könnt. gott gebs.

Aus der Serie Kulturcollagen. Bearbeitete Postkarte, Tixocollage

busen, die in büchern stehn, nicht anrühren; es sind ja bloß metaphern, die so zarter natur, dass ein anrühren sie verderben würde. solche busen und konkrete fassliche kennen wir von 
der vergleichenden natur- bzw. geisteswissenschaft. sie schaffen bzw. ermöglichen erkenntnis bzw. sinnlichen genuss – kreuzdonnerwetter!
warum wenden wir uns heute überhaupt an diese ausformung, gehört sie doch zum täglichen besteck des schwachlings, der vollauf mit anderem beschäftigt ist. darf ich es ihnen verraten? lieber nicht.
mein lieber herr und zwetschgenröster, machen sie nur so weiter. in ihrem bannkreis finden wir gerne hingestreut das kernobst nämlicher natur. wer aber wird es sich einfallen lassen, die kerne nach der trocknung aufzumachen, um blauen dunst daraus zu gewinnen. soll ich es ihnen sagen? vielleicht lieber nicht.
es ist eine weitverbreitete unsitte, während der abfassung von texten eine erdnussmahlzeit einzuschieben. ich und mein bester freund haben darüber gestritten, ob wir uns auf die fahnen schreiben sollten, dagegen aufzutreten. mein freund leidet an einem schwachen knie, er muss rücksicht nehmen auf seine partielle invalidität. ich habe halsweh vom vielen schreien und schreiben und sollte der ruhe pflegen. aber wie, wenn die vielen meschuggenen aufmarschieren und nicht zögern würden, unsere weißen leiber in den kot zu treten. trampeltiere ihres zeichens.
mein vater hat einmal gesagt und ich zögere nicht, seinen ausspruch hier oder da wiederholt zu verlautbaren. es hieß soviel wie: der tod ist die wertvollste gabe des lebens, und ich betone, dass dieser satz nun immer deutlicher licht verbreitet über meinen pölstern; schreiblicht. das ist für mich der beweis seiner definitiven gültigkeit für mich und lieschen müller.
seien sie bitte nicht ungehalten, wenn ich sie mit solchen schraubsätzen anstrenge; sie sind das bisschen cro-magnon in mir, das heißt: erste werkzeugverlängerungen des primitiven. nichts für ungut, ja?
 

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